Die TelefonSeelsorge auf anderen Wegen, die Arbeit in der Mailseelsorge
Haben Sie schon einmal von den Dementoren gehört? J.K. Rowling hat diese furchteinflösenden Gestalten erschaffen, um Harry Potter und seinen Freunden das Leben schwer zu machen... milde gesagt. Denn es handelt sich dabei um dunkle Gestalten, eiskalt und mehr tot als lebendig. Sie saugen ihren Opfern die Seele aus dem Leib, rauben den Verstand und sämtliche Gefühle. Zurück bleibt nur noch eine leere Hülle. Klingt gruselig, oder? Aber genauso hat mir Ms Gryffindor ihre Depression beschrieben.
Ms Gryffindor lebt irgendwo in einer Kleinstadt in Deutschland, ist Mitte 30, besucht eine Werkstatt für Menschen mit psychischen Erkrankungen und kämpft seit sie denken kann mit dunklen Gedanken und dem immer wiederkehrenden Wunsch, sich das Leben zu nehmen. Konkrete Pläne gab es schon viele. Bisher aber keine, die sie verwirklichen konnte. Sie war bereits in mehreren Therapien, hat mehrere Klinikaufenthalte hinter sich. Einen Sinn für´s Leben hat sie auch dort nicht gefunden.
Ms Gryffindor hat sich per Nachricht an unsere Mailseelsorge gewendet. Seitdem habe ich in über Hundert Anfragen und Antworten mit ihr über die Dementoren gesprochen und darüber, wie diese zurück gedrängt werden können. Die Mailseelsorge gibt es seit 1995, jährlich wechseln in Deutschland um die 45 000 Nachrichten hin und her. Gerade jüngere Ratsuchende nutzen dieses Medium, da ihnen Schreiben oft näher ist als Telefonieren. Der Griff zum Hörer hat etwas bedrohliches. Schreiben ist dagegen allgegenwärtig und noch anonymer als ein Telefonat. Am Telefon kann zumindest noch die Stimme auf Alter, Geschlecht oder momentanes Befinden hinweisen. In der schriftlichen Kommunikation ist auch dieser Faktor ausgeschaltet. Kanalreduktion nennt man dies in der Fachsprache. Nur das geschriebene Wort zählt. Keine Stimme, keine Pausen, kein Schluchzen oder Räuspern. Eine besondere Herausforderung für jeden Seelsorger und doch birgt die Mailseelsorge viele Chancen.
Im Gegensatz zur klassischen TelefonSeelsorge gibt es hier die Möglichkeit über einen längeren Zeitraum einen intensiveren Kontakt zwischen Ratsuchenden und Berater aufzubauen.
Kommen wir zurück zu Harry Potter: Dieser lernte die Dementoren mit Hilfe eines Patronus (Lateinisch für Schutzherrn/ Pate) in die Schranken zu weisen. Und auch Ms Gryffindor hat ein paar dieser Helfer gefunden: Malen, Lesen oder Backen, Bilder aus „guten Zeiten“, Kreuzworträtsel, ein altes Kuscheltier.
Während unserer vieler Nachrichten fanden wir gemeinsam immer mehr dieser Helfer und Ms Gryffindor stellte sich eine kleine Kiste mit Utensilien zusammen, die ihr im Notfall halfen. Kein Allheilmittel, kein Hexenwerk. Es sind oft die winzigen Anregungen, die das Leben ein klein bisschen erträglicher machen. Wunder erwarten wir gar nicht.
Ms Gryffindor hat sich diesen Namen übrigens gegeben, weil Mitglieder aus diesem Haus als besonders mutig, entschlossen und tapfer gelten. Ob sie den Kampf gegen die Dementoren, gegen die Depression, gewinnen kann? Ich kann es nur hoffen.
In ihrer letzten Nachricht an mich hat sich Ms Gryffindor mit folgenden Worten verabschiedet: „Vielen Dank, dass Sie so lange für mich da waren und mich begleitet haben. Das Schreiben hat mir oft aus meinem Tief geholfen und Sie haben immer an mich und meine Zauberkräfte geglaubt. Für mich kommt jetzt ein neues Kapitel und es geht, auf welchem Weg auch immer, weiter.“
Und auch damit müssen wir in unserer Arbeit leben: Aushalten, dass wir nicht wissen, wie die Geschichten ausgehen. Gibt es ein „Happy End“ oder siegen am Ende doch die bösen Mächte?
Es liegt nur wenig in unserer „Macht“, aber soviel ist sicher: Die nächste „Ms Gryffindor“, der nächste „Harry Potter“ wartet schon im Posteingang.
Anmerkung: Ms Gryffindor gibt es, so wie beschrieben, übrigens nicht und doch lebt sie in vielen Hunderten von Menschen, die jährlich Trost und Hilfe bei uns suchen.
Nadine Röckl-Wolfrum
Dipl. Sozialpädagigin (FH)
Co- Leitung der TelefonSeelsorge NOPF
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